Inklusiv unterwegs in der Musikschule Schmalkalden

Musikschulen erfüllen so viele kulturelle, künstlerische, gesellschaftliche und pädagogische Aufgaben, wie wenige andere Institutionen. Sie bilden aus, bieten sinnstiftende Freizeitbeschäftigung und sorgen für die kulturelle Umrahmung festlicher Ereignisse, gesellschaftlich und privat.  In jahrelanger geduldiger Arbeit investieren sich Musikschullehrkräfte in die nächste Generation und befähigen junge Menschen zu musikalischem Können bis hin zu Höchstleistungen bei Wettbewerbsteilnahmen und der Berufsvorbereitung als Künstler und Pädagogen. Und ganz nebenbei vermitteln sie Identität und trainieren ihre Schülerinnen und Schüler in Leistungsbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein. “Reicht das nicht?”, könnte man fragen. 

So wie es war, reichte es jedenfalls nicht für Lea-Sophie, Louis, Robert und Michael, Anton, Antonio und viele andere. Sie alle haben eins gemeinsam: große Liebe zur Musik. Und zusätzlich verschiedene auffällige Begabungen: z.B. ein absolutes Gehör, ein ungewöhnliches auditives Gedächtnis, Ausdauer zum Üben, Rhythmus im Blut, die Fähigkeit, perfekt zu imitieren, natürliche Bühnenpräsenz, Feingefühl für Stimmungen, Begeisterung für bestimmte Musikstile oder Instrumente, eine genaue Vorstellung, was wie klingen soll, … .

Trotzdem kamen sie alle unter “normalen Umständen” an das Angebot der Musikschule gar nicht erst heran. Sichtbare und unsichtbare Barrieren verhindern die Teilhabe: Zu langsam für die Trommelgruppe, zu viel Rollstuhl für die Stufen, zu wenig Geld für die Unterrichtsgebühren,  …..jemand kann nicht lesen, jemand versteht die Noten nicht, ein anderer ist blind. Jemand würde sein Instrument nie nach Hause mitnehmen, weil das kein sicherer Ort ist, ein anderer kann nicht selbständig vom Wohnheim oder vom Kinderheim in die Musikschule kommen. Jemand spricht zu undeutlich und jemand findet Zahlen nur im Rhythmus spannend. Wie alt er ist, weiß er nie. Jemand verliert durch Krankheit fortwährend Muskelspannung und jemand kann nicht länger als ein paar Minuten ruhig sitzen. Ob wir es nun Behinderung, Handicap oder Einschränkung nennen… 

Ein Grund, auf Musikunterricht an der Musikschule zu verzichten? 

Dass jeder, der will, mitmachen machen kann, das nennt sich Inklusion. Ein Wort in unserer Bildungslandschaft, dass mitunter schon einen negativen Klang bekam, bevor es seine Schönheit entfalten konnte. 

Inklusion ist ein weiter Weg. Aber in der Musikschule Schmalkalden sind wir seit vielen Jahren unterwegs, in mühevoller Kleinarbeit alle Barrieren abzubauen, die Menschen mit musikalischen Begabungen von selbstgemachter Musik fernhalten. 

Wie passiert das?

Bauliche Barrieren und Falschparker auf dem Behindertenparkplatz sind da noch das kleinste Problem. Trotzdem war es weitsichtig, beim Erweiterungsumbau vor Jahrzehnten eine Rollstuhlgeeignete Zufahrt anzulegen. 

Pädagogisches Handwerkszeug kann man lernen. Ohne das geht es nicht. Die berufsbegleitende Ausbildung des VdM für Instrumentalspiel mit Menschen mit Behinderung an der Akademie Remscheid kann die Fundamente legen und hilft bei einem praxisbezogenen Einstieg. Diese Ausbildung wurde für mich, damals noch als Honorarkraft an unserer Musikschule, durch Spenden finanziert.

Mit der Kooperation mit den Förderzentren 2014 und zwei Einzelschülern ging es los. Flötengruppen entstanden. Die erste Schülerpatenschaft begann. Unterricht im Wohnheim, statt in der Musikschule.

Und Eltern brachten neben den eigenen Kindern auch andere mit in die Musikschule. Diese treuen Transportdienste machten 2017 die Gründung eines kleinen inklusiven Ensembles möglich. 2018 nahm die “Montagsmusik” an einer Reise nach Alpignano, Schmalkaldens Partnerstadt in Italien, teil.

 Damit war klar, dass wir reisefähig und belastbar sind, auch bei Hitze oder Gewitterguss, bei ellenlangen Busfahrten, Proben und Konzerten. Weder eingestürzte Betten noch fremdes Essen, Liebeskummer oder Sprachbarrieren können uns abschrecken, so etwas wieder zu tun.

Auch wir haben in der Coronazeit herausgefunden, wie viel besser online-Unterricht als gar kein Unterricht ist. In den monatelangen Schließzeiten der Wohnheime für Menschen mit Behinderung haben wir manchen Sonntagnachmittag mit kleinen Hofkonzerten auf Distanz die Nähe gesucht.

Seit 2014 konnte ich Schülerinnen und Schüler an inzwischen 6 weitere Lehrkräfte in unserer Musikschule weitergeben. Natürlich wäre ich beratend zur Stelle, falls es Probleme gäbe. Aber es scheint gar nicht nötig zu sein. Es läuft. An anderen Musikschulen beobachte ich Kolleginnen über Jahrzehnte im Einzelkämpfermodus. Gott sei Dank, bei uns steht (nicht nur) die Musikschulleitung voll dahinter, dass unser Angebot sich inklusiv verändern darf. 

Das Ensemble Montagsmusik ist inzwischen auf 14 Mitglieder gewachsen. Eine nachgewiesene Behinderung ist keine Voraussetzung, um bei uns mitzuspielen. ; )

Immer wieder unterstützen uns Menschen mit Spenden, sodass wir Reisekosten oder fehlende Unterrichtsgebühren oder besondere Instrumentenanschaffungen bestreiten können.

Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Freude an der gemeinsamen Musik zu teilen, wo es möglich ist. Grundlage unserer musikalischen Arbeit ist es, herauszufinden, was jeder kann und dies dann sinnvoll zusammenzufügen. Inzwischen haben wir als Ensemble Seminare bei Musikschulforen gestaltet, mit Studierenden an der UNI Erfurt und der Hochschule für Musik in Weimar musiziert, geredet, getanzt. Wir waren mehrmals beim Modul zum Thema Inklusion im Rahmen der Elementaren Musik-Ausbildung an der Landesmusikakademie beteiligt, neben eigenen Auftritten auf verschiedenen Bühnen und gemeinsamen Projekten mit dem Orchester der Musikschule. ,

Was hat eine Musikschule davon, Barrieren abzubauen, was, außer viel zusätzlicher Mühe und Arbeit?

Was passiert, wenn Studierende in die fröhliche Runde einer Montagsmusikprobe eintauchen? Was geschieht, wenn ein junger Mann mit Down-Syndrom im Kindergarten sein Instrument, die Trompete, vorstellt? 

Kulturelle Teilhabe zu ermöglichen, ist in Deutschland gesetzlich verankert. Musikschulen haben sich in der “Potsdamer Erklärung” detailliert dazu verpflichtet. Diese gesetzlichen Grundlagen legitimieren unser Tun ganz entscheidend. Vernetzung der Inklusiven Bemühungen in allen Thüringer Musikschulen und Erfahrungsaustausch stärkt uns.  

Aber unsere tägliche Motivation ist noch schlichter und einfacher: Es ist die Freude, der Funke, der überspringt.

 Menschen mit Behinderung helfen uns, Schönheit oder Musikalität neu zu definieren und die Welt mit anderen Augen zu sehen. Und kreativ mit dem umzugehen, was vorhanden ist, anstatt etwas Fehlendes zu beklagen. Ich vergleiche meine Schüler oft mit dem Salz in der Suppe der Gesellschaft. “Schneller, höher, weiter und vor allem besser als die anderen…”das ist nicht ihre Disziplin. Sie sind täglich dazu gezwungen und spezialisiert darauf, Dinge anders zu tun, als wir es gewohnt sind. Ihre Lebenseinstellung kann uns bereichern. Es ermutigt uns, Leistung nicht absolut, sondern persönlich zu definieren. Wir lernen an ihrem Beispiel Durchhaltevermögen, Teamdenken, Feingefühl, ungefilterte Ehrlichkeit, und ich wiederhole mich gerne: Freude an der Musik. Gefühle und auch Musikalität sind nicht behindert, höchstens die Möglichkeiten, sie auszudrücken. Auch wenn unser Lerntempo minimal ist, feiern wir Riesenerfolge und sehen Fortschritte, die vor ein paar Jahren für uns unvorstellbar waren. 

Lea liebt das Rennsteiglied, deswegen bekam sie jetzt ihre Flöte umgetauscht in eine mit Doppellöchern. Zugetraut hatte ich ihr früher maximal 5 Töne mit der linken Hand.  Sie will im Sommer auf der Bühne stehen und dieses Lied spielen, Down- Syndrom hin oder her.

Robert ist als blinder Autist mit geistiger Behinderung nicht unbedingt der Fan von Veränderungen. Aber manchmal spielt er auf seinem Keyboard mit einem verschmitzten Lächeln Melodien, die mir unbekannt sind. Nicht aus dem Radio sondern selbst ausgedacht. Auf der Heimreise nach dem Seminar mit Studierenden der Hochschule für Musik, als alle im Auto schwärmen, wie schön es war, mit den chinesischen Jugendlichen zu tanzen, zu trommeln und zu musizieren, stellt er fest: “So muss das sein. Ihr könnt mich immer überall hin mitnehmen.”

Nach 11 Jahren Unterwegs- sein in Richtung Inklusion könnten wir Bücher mit diesen Geschichten füllen. Geschichten der Ermutigung, der Freudentränen, des Zusammenhaltes. Gibt es irgendeine Musikschule, die so etwas nicht braucht? 

Ja, es ist Arbeit. Ja, man braucht kontinuierliche Unterstützung.  Ja, es geht langsam.                       

Ja, es lohnt sich. 

Anke Bak Fachlehrer und Thüringer Fachsprecher “Instrumentalspiel für Menschen mit Behinderung“

Juni 2023

Inklusiv unterwegs